Das 2017 erschienene Buch stammt von Boris Palmer, dem bekannten und damals noch grünen Oberbürgermeister von Tübingen (geboren 1972), der bereits seit 2007 im Amt ist. Angesichts der Hunderttausenden Flüchtlinge, die seit 2015 nach Deutschland kamen, stellt er die zentrale Frage, wie die riesige Herausforderung der Integration gemeistert werden kann. Palmer vertritt die Überzeugung, dass Deutschland bei aller Hilfsbereitschaft offen über die Grenzen der Belastbarkeit sprechen muss, um Rechtspopulisten wie der AfD das Wasser abzugraben. Das Werk liefert einen Bericht aus der kommunalen Praxis, der Illusionen und Tabus in der Flüchtlingsdebatte kritisch beleuchtet und zur Entwicklung realistischer Lösungen anregen soll.
3 zentrale Erkenntnisse aus dem Buch
Flüchtlingspolitik ist kein rein moralisches Handeln: Das enorme Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Krisenregionen erzeugt eine moralisch unauflösbare Spannung. Eine rein moralische Flüchtlingspolitik ist nicht möglich, da man entweder alle Errungenschaften Europas mit so vielen Menschen teilen müsste, dass sie teilweise verloren gehen, oder man Hilfesuchenden zumuten muss, in schwierigen Zuständen in ihren Heimatländern zu leben.
Die Grenzen der Belastbarkeit sind real und vielfältig: Jede Gesellschaft hat Grenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Diese werden nicht nur durch materielle Faktoren wie Wohnungsnot und angespannte Bildungseinrichtungen bestimmt, sondern auch durch die politische Verfassung; der starke Zulauf zur AfD auf dem Höhepunkt der Krise war ein klares Indiz dafür, dass die Belastungsgrenze eines nicht mehr zu vernachlässigenden Teils der Gesellschaft überschritten wurde.
Offenheit und Realismus sind essenziell für dauerhaften Konsens: Wenn die Stimmung nur aufrechterhalten wird, indem wichtige Fakten ausgeblendet oder geschönt werden (z. B. Qualifikationsniveau der Flüchtlinge), kippt sie zwangsläufig, was zu großer Enttäuschung führt. Nur wer von Anfang an realistische Erwartungen bildet, kann dauerhaft eine positive Grundhaltung bewahren.
Für wen ist das Buch besonders interessant?
Kommunalpolitiker und Verwaltungsmitarbeiter: Sie erhalten tiefe Einblicke in die praktischen Herausforderungen vor Ort, da die meisten Belastungsgrenzen nicht im Bundestag, sondern in den Städten und Gemeinden sichtbar werden. Palmer schildert detailliert die Schwierigkeiten bei der Unterbringung, die durch Bürokratie, wie Bauvorschriften (Lärmschutz, Artenschutz), entstehen.
Kritische Bürger und Wähler linker/liberaler Parteien: Das Buch bietet eine fundierte Auseinandersetzung mit den Illusionen und Tabus im öffentlichen Diskurs und dem Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Es ermutigt dazu, Andersdenkenden mit Toleranz zu begegnen, statt sie moralisch auszugrenzen.
Arbeitsmarkt- und Integrationsexperten: Es beleuchtet die Herausforderungen bei der Eingliederung der überwiegend formal unqualifizierten Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt und diskutiert innovative Lösungen wie den „Spurwechsel“ von Asyl zu Einwanderung.
Was Du aus dem Buch mitnehmen kannst
Die Notwendigkeit des Flüchtlingsrealismus
Das Buch ist eine direkte Reaktion auf die Flüchtlingskrise ab 2015, in der Palmer das Motto „Wir schaffen das“ der Kanzlerin mit einem „Wir schaffen das nicht“ konterte. Er identifiziert die Willkommenskultur als Haltung der „oberen zwei Drittel“ der Gesellschaft, deren Lage gesichert ist, während das „untere Drittel“ Neuankömmlinge als Konkurrenten um Jobs und bezahlbaren Wohnraum betrachtet. Diese Verlustängste sind keine eingebildeten Probleme, da der Wohnungsmarkt (besonders in Wachstumsregionen wie Tübingen) schon vor dem Flüchtlingsandrang stark angespannt war. Palmer betont, dass die anfängliche Euphorie in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration unbegründet war, da 80 Prozent der Flüchtlinge als formal unqualifiziert eingestuft wurden und die Integration ein Jahrzehnt dauern kann. Die Realität zeige, dass Asyl und Arbeitsmigration völlig verschiedene Dinge sind und nicht vermischt werden dürfen.
Die Grenzen kommunaler Belastbarkeit und gesellschaftlicher Tabus
Die größte Herausforderung für die Kommunen war die schnelle Bereitstellung von Wohnraum. Palmer beschreibt detailliert, wie Bauvorhaben in Tübingen aufgrund des komplizierten deutschen Baurechts (Lärmschutz, Erdbebenschutz, Denkmalschutz, Artenschutz wie Juchtenkäfer) stark verzögert wurden, obwohl Flüchtlinge in Notunterkünften lebten. Dies zeigt, dass die staatlichen Vorschriften in einer Güterabwägung nicht wichtiger sein können als die Gewährung von Schutz. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Veränderung des Nachtlebens durch die Ankunft vieler alleinreisender junger Männer. Palmer thematisiert die wohlbegründeten Ängste von Eltern um ihre Töchter und die Zunahme sexueller Übergriffe durch Täter mit arabischer oder schwarzafrikanischer Herkunft (z. B. im Tübinger „Epplehaus“ oder in Köln). Er argumentiert, dass die Weigerung, diese Probleme offen anzusprechen, sie nur verschärft und gesetzestreue Asylbewerber diskriminiert.
Für eine integrierte Gesellschaft: Spurwechsel und Toleranz
Langfristig müssen wir die verlorene Zeit der ersten zwei Jahre aufholen, um die Integration zu gewährleisten. Dies gelingt durch Ansätze wie den „Gmünder Weg“ von Oberbürgermeister Richard Arnold, der Integration vom ersten Tag an durch „Fordern und Fördern“ betreibt. Palmer plädiert für einen „Spurwechsel“ vom Asylrecht zum Einwanderungsrecht: Flüchtlinge, die Sprache lernen und dauerhaft Arbeit finden, sollen ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht erhalten, unabhängig vom Ausgang ihres Asylverfahrens. Gesellschaftlich müssen wir uns unserer eigenen Werte vergewissern (Leitkultur) und zugleich die Andersartigkeit der Fremden sachlich beschreiben. Um Populismus einzudämmen, muss das liberale Bürgertum seine moralische Selbsterhöhung überwinden und Toleranz für Andersdenkende praktizieren. Hart in der Sache, aber verbindlich im Ton, sei der einzig sinnvolle Weg, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Das Buch in einem Satz
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist ein moralisches Dilemma und eine große Herausforderung, die nur durch pragmatische und realistische Politik, die konsequent Integrationsleistungen einfordert und fördert, sowie durch das offene Ansprechen von Tabus und Problemen gemeistert werden kann.
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