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Robin Alexander – Die Getriebenen
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Robin Alexander – Die Getriebenen

Merkels Grenzöffnung 2015: Die dramatische Rekonstruktion von sechs Schicksalsmonaten

Robin Alexander, der sich als Reporter und Kolumnist im politischen Berlin einen Namen gemacht hat und seit 2008 als Hauptstadtkorrespondent der „Welt am Sonntag“ die Politik Angela Merkels aus der Nähe verfolgt, beleuchtet in seinem 2017 erschienenen Buch „Die Getriebenen“ die folgenschweren Entscheidungen der deutschen Politik während der Flüchtlingskrise. Das Werk rekonstruiert die sechs Schicksalsmonate von September 2015 bis März 2016, eine Zeit, die Deutschland nachhaltig verändert hat. Alexander zeigt, wie die politischen Akteure, darunter Angela Merkel, Horst Seehofer und Peter Altmaier, zwischen selbst auferlegten Zwängen und sich überschlagenden Ereignissen zerrieben wurden und so zu Getriebenen wurden. Das Buch liefert einen umfassenden Report aus der Perspektive der politisch Handelnden und erzählt dabei weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück.

3 zentrale Erkenntnisse aus dem Buch

  • Die Grenzöffnung geriet vom humanitären Akt zum monatelangen Ausnahmezustand: Die folgenreiche Entscheidung vom 4. September 2015, Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, war als Ausnahme gedacht, wurde aber nicht planmäßig beendet. Eine vorbereitete Grenzschließung am 13. September 2015 wurde in letzter Minute rückgängig gemacht, weil keiner der führenden Politiker in der Großen Koalition die Verantwortung für die Abweisung von Flüchtlingen übernehmen wollte.

  • Politische Akteure handelten in der Krise oft gegeneinander, nicht miteinander: Die politisch Verantwortlichen trafen Entscheidungen von enormer Tragweite unter großem Druck, in sehr kurzer Zeit und auf Grundlage unvollständiger Informationen. Dabei agierten die Akteure manchmal gemeinsam; öfter rangen sie miteinander, und erstaunlich häufig arbeiteten sie sogar gegeneinander. Ein Beispiel dafür war das gespannte Verhältnis zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer, aber auch der Machtkampf zwischen Kanzleramtschef Peter Altmaier und Innenminister Thomas de Maizière.

  • Die Lösung der Krise wurde durch externe Partner erzwungen: Weder die Rhetorik der „alternativlosen“ offenen Grenzen noch die forcierte europäische Verteilung (die per „nuklearer Option“ gegen den Willen Osteuropas durchgesetzt werden musste) beendeten die Krise. Stattdessen sorgte die Schließung der Balkanroute durch Länder wie Mazedonien und Österreich (Sebastian Kurz) für die Beruhigung der Lage, während Merkel mit dem EU-Türkei-Deal die Verantwortung an einen schwierigen Partner verlagerte.

Für wen ist das Buch besonders interessant?

  • Politik- und Medienexperten: Das Buch gewährt tiefe Einblicke in die Mechanismen der Macht im Kanzleramt, in Brüssel und den Ministerien. Alexander rekonstruiert die entscheidenden Telefonate und Abläufe minutiös, beispielsweise das Ringen um den Einsatzbefehl zur Grenzschließung oder den Machtkampf zwischen Merkel-Vertrauten Altmaier und de Maizière.

  • Bürger, die die Entstehung der gesamtgesellschaftlichen Stimmung verstehen wollen: Es wird dargelegt, wie die anfängliche „Willkommenskultur“ entstand und wie das Gefühl des Kontrollverlusts die Stimmung kippen ließ. Die Darstellung des Einflusses der Medien und der symbolischen Bedeutung von Ereignissen wie den „Mama Merkel“-Selfies und den Ausschreitungen in Heidenau beleuchten die Polarisierung Deutschlands.

  • Entscheidungsträger im Krisenmanagement: Das Werk dient als Fallstudie für politisches Handeln unter extremem Druck. Es zeigt, wie die Bundesregierung angesichts der Überforderung improvisierte und schließlich unter der Ägide von Peter Altmaier ein pragmatisches Flüchtlingsmanagement etablieren musste, was die Logik der staatlichen Verwaltung revolutionierte.

Was Du aus dem Buch mitnehmen kannst

Der unvollendete humanitäre Impuls

Das Buch beginnt mit der folgenschweren Entscheidung vom 4. September 2015, als Angela Merkel die Grenze öffnete und Deutschland damit ein „dramatisches Kapitel deutscher Geschichte“ begann. Alexander legt dar, dass die Kanzlerin aus der Sorge vor Gewalt in Ungarn handelte, doch die humanitäre Ausnahme geriet außer Kontrolle, nicht zuletzt wegen der euphorischen Willkommenskultur und Merkels Zögern, ein Stoppsignal zu senden. Obwohl die Grenzschließung am 13. September 2015 technisch und juristisch möglich gewesen wäre, weigerte sich die Koalitionsspitze, die Verantwortung für eine unpopuläre Zurückweisung zu übernehmen. Aus der Ausnahme wurde ein sechsmonatiger Ausnahmezustand, der die Entpolitisierung der Gesellschaft beendete, zugleich aber eine Spaltung vorantrieb.

Machtkampf, Scheitern der Quoten und die fatalen Bilder

Die innenpolitische Folge war ein tiefgreifender Machtkampf. Merkel umging den kranken und unentschlossenen Innenminister Thomas de Maizière und ernannte Peter Altmaier zum Flüchtlingskoordinator, um die Krise logistisch zu bewältigen. Gleichzeitig kämpfte Merkel verzweifelt auf europäischer Ebene für eine Quote zur Verteilung von Flüchtlingen, scheiterte jedoch am Widerstand der Osteuropäer, deren Ablehnung per „nuklearer Option“ erzwungen werden sollte. Diese als „multikultureller Imperialismus“ bezeichnete Strategie beschädigte das Vertrauen in die EU nachhaltig. Auch die ikonischen „Mama Merkel“-Selfies trugen zur Polarisierung bei: Sie wurden weltweit als Einladung verstanden und verstärkten so den Pull-Faktor, während Kritiker wie Horst Seehofer und Wolfgang Schäuble die Kanzlerin intern vehement attackierten und eine Wende erzwangen.

Der Wettlauf gegen die Zeit und die externe Lösung

Angesichts der drohenden Überforderung und des Stimmungsumschwungs nach den Kölner Silvesterereignissen musste Merkel im „Wettlauf mit der Zeit“ eine Lösung finden, bevor der Winter endete. Sie wurde zum Handeln gezwungen, als der österreichische Außenminister Sebastian Kurz mit konzertierter Diplomatie die Schließung der Balkanroute organisierte. Obwohl Merkel diese Schließung öffentlich ablehnte, da sie dem Narrativ der „offenen Grenzen“ widersprach, war sie eine notwendige Bedingung für den Erfolg ihres eigentlichen Plans: den EU-Türkei-Deal. Für diesen „Canossa-Gang“ zum Autoritären Recep Tayyip Erdoğan gewährte Merkel weitreichende Zugeständnisse (Milliardenhilfe, Visaliberalisierung). Das Abkommen beendete zwar vorerst den Flüchtlingsstrom, doch die Autorität in Europa wurde untergraben, und die Lösung blieb ein Provisorium, da die Aufgabe der Grenzsicherung an autoritäre Staaten ausgelagert wurde.

Das Buch in einem Satz

Die Rekonstruktion der sechs dramatischen Monate der Flüchtlingskrise zeigt, wie Kanzlerin Merkel und andere politische Akteure durch eine Kette von Improvisationen, Alleingängen und verpassten Entscheidungen zu Getriebenen wurden, wodurch Deutschland gespalten und Europa in eine tiefe Vertrauenskrise gestürzt wurde.

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